Auf der Heimfahrt vom Engadin, bin ich nach fast genau 35 Jahren an einen Ort zurück gekehrt, der ganz weit weg war und nun plötzlich wieder mit vielen Details vor mir aufgetaucht ist.
Rona. Mit 9 Jahren haben mich meine Eltern dorthin geschickt. 3 Wochen lang. Ich weiss nicht mehr warum, vielleicht um mir eine Freude zu machen weil wir sonst nie in den Urlaub fuhren. Vielleicht weil ich zu sehr an meiner Mutter hing oder vielleicht einfach nur, weil sie mal ein paar Wochen wenigstens ein Kind los haben wollten. Egal. Wir brachten meinen Koffer, der separat verschickt wurde, ein paar Tage zuvor zum Bahnhof und ich erinnere mich noch heute an den Bahnhofsvorsteher, der ihn entgegen nahm (der selbe, den wir später den Bähnler nannten und über den wir uns lustig machten, wenn wir ihm bei unseren Wettbewerben, wer am frühesten aus dem fahrenden Zug springt, vor die Füsse sprangen). Wir gaben den Koffer nach Rona in Graubünden auf, er schrieb auf das Etikett Roma, Italien und so nahm die Geschichte ihren Lauf.
Ich erinnere mich an die Abfahrt vom Bahnhof Basel SBB an einem Samstag. Eine Gruppe Kinder in meinem Alter, nein älter, ich war der Jüngste. Bis Chur mit dem Zug, dort stiess eine Gruppe Kinder aus Friedrichshafen zu uns und es ging weiter mit dem Bus. Es war die längste Reise überhaupt für mich und am Ende waren wir dann in diesem alten Haus mit vielen Zimmern voller vielen Betten und ich schlief oben in einem Doppelbett mit vier oder fünf anderen Buben, alle älter als ich. Ich wurde mit keinem warm. Dann kamen die Koffer. Sie wurden alle auf der Treppe am Eingang abgestellt. Jedes Kind holte sich seinen Koffer und als alle Koffer weg waren stand einer da und schaute dumm in die Röhre. Ich.
„Vielleicht kommt er ja am Montag nach‟, wurde ich vertröstet. Aber er kam auch am Montag nicht und mir blieben nur die Kleider die ich am Leibe trug. Ich fühlte mich so verlassen, so allein, es treibt mir heute noch die Tränen in die Augen, wenn ich an dieses Gefühl denke, dass ich damals hatte, wenn ich abends in meinem Bett lag. Irgendwann kam dann ein Paket von zu Hause an. Darin Kleider von sämtlichen Kindern der Nachbar- und Verwandtschaft (meine eigenen waren ja allesamt in dem verdammten Koffer drin), zusammen mit Süssigkeiten und einem Brief von Mutter. Was für eine Freude! Unglaublich wie schön das war, so schön, ich wollte sofort nach Hause…Heimweh! Jeden Tag wartete ich dann auf ein Päckchen und alle paar Tage wurde mein Warten belohnt.
Nachdem wir heute um das Haus herum gingen und ich nachher wieder im Auto sass, fielen mir so viele Dinge wieder ein. Ich erinnere mich noch, dass ich immer erst ganz am Schluss zum Duschen ging. Es mussten immer drei Jungs zusammen duschen, was ich furchtbar fand, ich wollte mich nicht vor den anderen nackt zeigen. Dafür kam dann kein warmes Wasser mehr wenn ich ging und mir blieb entweder das kalte Bergwasser oder gar nicht zu duschen…meistens entschied ich mich für Letzteres. Ich erinnere mich an ein Gewitter in der Nacht und die Angst die ich hatte, weswegen ich hinunter zu den Betreuerinnen ging, die mir versicherten, dass das Haus einen Blitzableiter hat. Oder wie eben eine dieser Betreuerinnen mich anmotzte weil ich trotz eisiger Temperaturen barfuss in den Sandalen war - ich hatte keine sauberen Socken mehr.
Aber es sind auch ganz tolle Erinnerungen, die ich an diese drei Wochen habe. Die Spiele im Garten, das Malen und Basteln im Aufenthaltsraum. Das Mädchen mit der Chipsfrisch-Mütze die ich mochte und die ich immer Chipsfrisch-Tüte nannte. Ich glaube sie hiess Gabriele und war mit ihrer grossen Schwester da. Wir lernten unzählige Lieder, die ich zu Hause meinen Geschwistern beibrachte. Ich erinnere mich an Wiesen voller Wollgras und an die Lawine, die gleich nach dem Ort im Winter zuvor abging und eine Schneisse in den Wald riss, die noch sichtbar war und mich sehr beeindruckte. Es gab zwei grosse Tageswanderungen, hinauf auf die Berge. Wir bekamen ein Vesper mit, in pastellgrünen Plastikbeuteln. Einmal ging es zu einem wunderschönen Bergsee in dem wir badeten. Auf beiden Wanderungen habe ich mich verlaufen. Beide Male musste ich austreten und konnte erst pinkeln, als alle Anderen ausser Sichtweite waren. Dann lief ich weiter und fand sie nicht wieder. Trotzdem habe ich es immer geschafft den Weg nach Hause zu finden und ich erinnere mich noch, wie die Leiterin mich angeschrieen hatte, als ich beim zweiten Mal ein paar Stunden nach allen Anderen eingetroffen bin. Heute kann ich sie verstehen.
Ich weiss nicht mehr, wie ich dann am Ende der drei Wochen nach Hause gekommen bin. Die Heimfahrt, das Wiedersehen, das alles habe ich vergessen. Ich kann mich aber an den Koffer erinnern, der dann, kurz vor Weihnachten, aus Rom zurück kam - voller Mäusekot und mit Kleidern, die mir nicht mehr passten und die wir alle entsorgen mussten weil sie total verschimmelt waren.
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